Die Corona-Krise als Innovationschance
- Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-bedingten Welle von Ersatzfreiheitsstrafen und uneinbringlichen Geldstrafen in Berlin und Brandenburg
Situationsanalyse
Um die Infektionsgefahr mit dem Corona-Virus in den Justizvollzugsanstalten zu minimieren, ist der Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen seit Mitte März 2020 ausgesetzt. Bereits inhaftierte Geldstrafer werden vorübergehend aus der Haft entlassen und müssen diese zu einem späteren Zeitpunkt finalisieren, sofern sie nicht zwischenzeitlich die vom Gericht verhängte Geldstrafe begleichen. Die Staatsanwaltschaften sehen derzeit von Ladungen zum Antritt neuer Ersatzfreiheitsstrafen ab. Darüber hinaus werden bereits veranlasste Ladungen sowie etwaige Vorführ- oder Vollstreckungsbefehle zur Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen zurückgenommen.[1] Nicht zuletzt wurden in den vergangenen acht Wochen keine oder kaum Tilgungs- und Überwachungsaufträge nach TVO an die zuständigen Fachvermittlungsstellen wie die sbh-Gefangenen-Fürsorge gGmbH vergeben.
Risiko
Die aktuelle Situation einer sich auftürmenden Welle unerledigter Fälle birgt das Risiko, dass die staatsanwaltlichen und vollzuglichen Kapazitäten nach dem justiziellen Lockdown nachhaltig be- oder gar überlastet sein werden. Die Welle wird insbesondere von folgenden Faktoren gespeist:
- Der Vollzug von laufenden EFS wurde bis auf weiteres ausgesetzt.
- Der Vollzug neuer EFS wurde bis auf weiteres ausgesetzt.
- Aufgrund der wirtschaftlichen Folgen werden laufende Ratenzahlungen (die bislang nicht als uneinbringliche Geldstrafen registriert waren) notleidend und mithin uneinbringlich.
- Die wirtschaftlichen Folgen von Kurzarbeit beziehungsweise Arbeitslosigkeit und die damit einhergehenden Zahlungsprobleme von Geldstrafern werden uneinbringliche Geldstrafen nach sich ziehen, da die Einkunftshöhe nicht (mehr) der festgelegten Tagessatzhöhe entspricht.
- So wie in den letzten fünf Jahren der Arbeitsmarkt dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der uneinbringlichen Geldstrafen um circa 50 Prozent reduziert hat, wird die einschlägige Delinquenz und in der Folge die Zahl der uneinbringlichen Geldstrafen aufgrund zunehmender Arbeitslosigkeit signifikant steigen.
Ziel
Eine starke Zunahme von uneinbringlichen Geldstrafen und in letzter Konsequenz eine Vielzahl zu vollstreckender Ersatzfreiheitsstrafen muss bestmöglich vermieden werden. Statt den Vollzug der Strafen und die laufenden Verfahren aufzuschieben, sollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein höchstmögliches Maß an Tilgung angestrebt werden. Das hier vorgeschlagene Maßnahmenpaket kann über die Corona-Krise hinaus intensiviert werden, an Dynamik gewinnen und als Blaupause für den zukünftigen Umgang mit uneinbringlichen Geldstrafen dienen.
Langfristig besteht unser Ziel darin, Ersatzfreiheitsstrafen in Berlin und Brandenburg nachhaltig zu vermeiden. Dieses Ziel deckt sich mit dem übergeordneten, Corona-unabhängigen und im Koalitionsvertrag definierten Ziel der Brandenburger Landesregierung:
Zur weiteren Entlastung des Strafvollzugs wird die Koalition die bestehenden Maßnahmen zur Abwendung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen konsequent verfolgen[2].
Auch der Berliner Senator für Justiz Dirk Behrendt möchte nach eigener Aussage die Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafer um die Hälfte reduzieren.[3]
Im Übrigen waren in Berliner Gefängnissen am 26.02.20: 326, am 18.03.: 262, am 25.03.: 112 und am 22.04. noch 43 EFS inhaftiert. Unsere folgenden Vorschläge sollen dem Ziel dienen, die Zahl der inhaftierten EFS nicht mehr über 180 steigen zu lassen.
Lösung
Die sbh-Gefangenen-Fürsorge gGmbH hat das „Tilgungspaket EFS“ entwickelt, um durch aufeinander abgestimmte Angebote die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen zu optimieren, eine intensive Tilgung zu organisieren und so eine schwer kontrollierbare Welle uneinbringlicher Geldstrafen zu verhindern. Die sbh-Gefangenen-Fürsorge gGmbH schlägt in Zusammenarbeit mit den Justizorganen die Initiierung der folgenden Maßnahmen vor:
- Corona-Nachlass: Bei zügiger Tilgung wird 1/3 der Tagessätze erlassen, wenn der/die Klient_in innerhalb eines Jahres straffrei bleibt. Alternativ oder ergänzend kann von Justiz für einen festgelegten Zeitraum verfügt werden, dass ein Tagessatz durch vier Stunden freie Arbeit getilgt wird.
- Rate+: Einführung von Ratenzahlungen mit Abtretung/Geldverwaltung (Rate+) oder Entlassung aus der EFS in Rate+ in Brandenburg und erweitertes Angebot von Rate+ durch alle FVS in Berlin. Zusendung einschlägiger Flyer Rate+ mit der Ladung zum Haftantritt.
- Optimierte Beschäftigungsgeberstruktur: Das Erreichen einer hohen Tilgungsquote durch Investitionen in eine qualifizierte und tilgungsorientierte Beschäftigungsgeberstruktur mit sozialpädagogischer Anleitung und Qualifizierungs-/Gruppenangeboten.
- Day-by-day – insbesondere per Außenkommando: Ersatzfreiheitsstrafer tilgen mit sechs Stunden freier Arbeit in der JVA oder im Außenkommando zusätzlich zu dem Hafttag einen weiteren Tag der Ersatzfreiheitsstrafe. Wird gemäß Punkt I. ein Tagessatz durch vier Stunden freie Arbeit getilgt, kann die Tilgungsleistung bis zu drei Tagessätzen pro Tag erhöht bzw. die Haftdauer entsprechend reduziert werden.
- BISS (Bildung statt Strafe): Kurzfristig wird sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschärfen. Es ist das Ziel von BISS, Klient_innen fit zu halten und auf den erhöhten Bedarf an Arbeitskräften, der mittelfristig nach überstandener Rezession entstehen wird, vorzubereiten. Dafür können 20 Prozent der Arbeitsstunden in Bildungsstunden umgewandelt werden, die bei qualifizierten Beschäftigungsgebern durchgeführt werden können.
Politischer Gewinn
Die Präsidentin des Landgerichts Potsdam Ramona Pisal äußert die Sorge, dass Bürger_innen den Glauben in den Rechtsstaat verlören. Sie sei beunruhigt von Formulierungen wie „Gerichte im Notbetrieb“.[4] Das Projekt „Tilgungspaket EFS“ der sbh-Gefangenen-Fürsorge gGmbH ist mit seinem hohen Maß an ergebnisrelevanter Initiative und Innovation bestens geeignet, dem Eindruck von Notbetrieb wirksam entgegenzuwirken.
Messbare und politisch kommunizierbare Ergebnisse des Projekts sind:
- hohe Tilgungsrate
- zügige Vollstreckung
- deutliche und nachhaltige Reduktion sowohl von Haftkosten als auch von Kosten, die in der Folge von Inhaftierung durch weitere soziale Erosion entstehen
- durchsetzungsstarke und handlungsfähige Politik
Analog der umfassenden Ausnahmeregeln in Zeiten Corona müssen entsprechende Lösungen auch für das Handlungsfeld „uneinbringliche Geldstrafen – gemeinnützige Arbeit – Ersatzfreiheitsstrafe“ festgelegt werden. Die skizzierte Welle zugungunsten unserer bereits randständigen Klientel kann verhindert werden – wenn alle Beteiligten rechtzeitig und koordiniert handeln.
[1] z.B. Potsdamer Neueste Nachrichten vom 17.3.2020: https://www.pnn.de/brandenburg/coronakrise-in-brandenburg-ersatzfreiheitsstrafen-werden-ausgesetzt/25652472.html
[2] Zusammenhalt nachhaltig sichern, Koalitionsvertrag für Brandenburg von SPD, CDU und Bündnis 90/ Die Grünen vom 25.10.2019, Zeile 2906 f.
[3] Tagesspiegel vom 22.06.2018. https://www.tagesspiegel.de/berlin/plaene-von-berlins-justizsenator-gemeinnuetzige-arbeit-statt-haftstrafe/22721640.html
[4] Potsdam Neueste Nachrichten vom 12.05.2020. https://www.pnn.de/brandenburg/interview-landgerichtspraesidentin-ramona-pisal-es-gibt-bislang-keinen-notbetrieb/25820690.html